B. Hernandez
In der Bar wollte er deshalb nur ein oder zwei Bierchen trinken, um ganz herunterzukommen. Aber ein paar Stunden später saß Alex immer noch dort. Wie die meisten Betrunkenen schwankte er auf seinem Barhocker - den Kopf in den Nacken geschlagen und die Augen geschlossen - mit seinem Oberkörper halbwegs im Takt der Musik hin und her. Der Alkohol machte nichts vergessen, aber spülte alles so weit von ihm weg, dass es Alex nicht mehr berühren konnte. Nach ein paar Bieren und ein paar Drinks blieben vom heutigen Tag nur noch Erinnerungen wie aus einer anderen, weit zurückliegenden Zeit übrig, während das Leben hier und jetzt sanft und leicht geworden war. Alex bestellte seine nächste Runde und versuchte, weiter auf seinem Hocker zur Musik zu tanzen. Auf die eine oder andere Weise würde es sowieso früher oder später genau so enden: Man würde älter; die inneren Stürme würden sich von allein legen; das Drängen weniger und weniger werden; man würde sich auf Barhockern an die alten Schlachten, Wunden und Leiden zurückerinnern und darüber lachen, wie intensiv und mächtig sie gewesen waren, und vor allem wie nutzlos und zerstörerisch. Mit der Zeit würden selbst diese Erinnerungen mehr und mehr verblassen, sie wären zwar immer da, aber man würde sie fast nicht mehr spüren. Genauso wie er jetzt. Alles würden nur noch Bilder und Gedanken sein. Nein, weniger, nur noch Ahnungen, dass es einmal so gewesen sein musste. Dass man einmal so empfunden und gelebt hatte. Aber nichts würde einen mehr berühren. Man würde mit allem versöhnt sein. Ewiger Friede würde herrschen, wo früher gewaltige Kämpfe tobten. Als ob man ein neuer Mensch geworden wäre. Vielleicht mehr ein anderer Mensch. Einer, nachdem man sich in seinen jungen, dunklen, kalten Momenten gesehnt hatte. Dann würde man schlußendlich doch genau da ankommen, wo Alex sowieso lange vorher anlangte: Man würde die Gewissheit haben, dass das einzig mögliche Glücklichsein im Leben darin bestand, ein paar Biere zu kippen, sich von einem einsamen Ding den Schwanz lutschen zu lassen und ihr dafür das zu geben, wonach sie sich am meisten sehnte, nämlich einen zärtlichen Kuss und Arme, in denen sie die Nacht verbringen konnte. Nicht mehr und nicht weniger.

Nach diesem letzten Gedanken kippte Alex den Rest seines Drinks hinunter, rutschte dabei vom Barhocker und stolperte ein paar Schritte rückwärts, bevor er hinfiel. Er merkte, wie er zunächst auf seinem Hintern landete und dann mit Rücken und Kopf auf dem Boden aufschlug. Er spürte keinen Schmerz, aber ein heller Blitz zuckte plötzlich vor seinen Augen. Lächelnd hielt er sich die Hand vor das Gesicht, weil er dachte, die Sonne würde ihn blenden. Alex versuchte, sich umzuschauen, um festzustellen, wo er war. Als er den Kopf zur Seite drehte, konnte er eine Frau dastehen sehen. Angestrengt versuchte er, sie zu erkennen, aber sie schien zu weit entfernt zu sein. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie schön war. Schön und feminin. Strahlend vor innerer Gewissheit über die Dinge des Seins. Durchdrungen von der wunderbaren Freude und Begeisterung, Mensch zu sein. Und gefestigt durch einen Hauch aufrichtiger, reiner, bittersüßer Melancholie, weil das Leben selbst doch nur ein endlicher Teil in der Unendlichkeit war. Noch einmal versuchte er, das Gesicht der Frau zu sehen. Je angestrengter er es aber versuchte, desto weiter schien sie sich von ihm zu entfernen. Alex wollte aufstehen und ihr nachgehen, da kam ihm plötzlich in den Sinn, wo er liegen musste: im Garten seines Hauses am See. Da war aber weit und breit kein Haus und der Rasen fühlte sich kalt und hart an. Den See konnte er auch nicht sehen. Stattdessen gab es überall Baumaschinen und Gerüste. Sein Land war verkauft. Aus dem Hintergrund hörte er jetzt Stimmen auf ihn einreden. Es mussten Bauarbeiter sein, die ihn wegschicken wollten. Da er nicht gehen wollte, packten sie ihn und trugen ihn weg. Alex versuchte sich loszureißen und fluchte die Männer an. Schließlich ließen sie ihn los und er fiel wieder zu Boden. Als einer der Bauarbeiter ihn nach einem Taxi fragte, realisierte Alex, dass er auf dem Parkplatz vor der Bar lag. Zwei Männer hatten ihn herausgebracht und wollten ihm jetzt ein Taxi für die Fahrt nach Hause bestellen. Alex rappelte sich auf und winkte ab.
 
Langsam torkelte er, sich immer wieder an Laternenmasten festhaltend und Gebäudewände streifend, entlang der Straße zurück nach Hause. Die Bewegung und frische Luft halfen, den Ausnüchterungsprozess etwas zu beschleunigen. Immerhin soweit, dass Alex sich ansatzweise Gedanken machen konnte, was er Jasmin sagen wollte. Sie würde ganz schön sauer auf ihn sein, das war ihm klar. Er war gerade dabei tief in seine Suche nach Ausreden zu versinken, als er plötzlich aufgeschreckt zusammen fuhr und wie erstarrt stehen blieb. Aus der Einfahrt einer Seitengasse unmittelbar vor ihm war das Scheppern umgestoßener Mülltonnen zu hören gewesen.

 „Wer da?“, schrie Alex mehr reflexartig, als gewollt.

Vorsichtig machte er einen Schritt nach vorne und beugte sich vor, damit er um die Ecke in die Gasse sehen konnte. Dabei verlor Alex sein Gleichgewicht, stolperte und kam schließlich ein paar Schritte vor den umgekippten Mülltonnen wieder zum Stillstand. Als er die Orientierung wiederfand, merkte er, dass er einem großen kräftigen Hund mit zerzaustem Fell und funkelnden Augen gegenüberstand, der ihn bedrohlich anknurrte. Vor Schreck hörte Alex auf zu atmen. Einen Moment lang starrten sich die beiden an. Dann nahm der Hund mit seinem Maul etwas aus dem Müll, drehte sich um und trottete in die Dunkelheit der Gasse davon. Kaum war der Hund verschwunden, brach die Erstarrung buchstäblich aus Alex heraus und er übergab sich, wobei er vornüber in den Müll fiel.

„Verdammter Köter. Hast mich zu Tode erschreckt“, fluchte er und wischte sich seinen Mund am Ärmel ab.

Mühsam und mit Hilfe der Mülltonnen richtete sich Alex wieder auf.

„Was für ein Hund“, murmelte er.

Und dann in Richtung Hund mit erhobener Faust: „Lass‘ dich ja nicht erwischen!“

Langsam ließ er seine Faust wieder sinken.

„Aber wo schläfst du heute Nacht, du blödes Vieh? Alleine unter einer Brücke auf dem kalten Boden?!“

Alex starrte noch eine Weile in die dunkle Seitengasse.

„Was für ein prächtiger Hund“, wiederholte er halblaut.

Schließlich drehte er sich ebenfalls um und machte sich murmelnd wieder auf seinen Heimweg:

 „Lass dich nicht von ihnen erwischen.“